Im letzten Newsletter stellten wir die Frage, welches von zwei Fallbeispielen dem Jahr 1985 und welche dem Jahr 2015 zuzuordnen ist. Vielleicht wenig überraschend kommt, dass der Fall aus der Industrie aus dem Jahre 1985 stammt. Es ist genau das Szenario, das an der Materials Handling Research Unit der University of the Witwatersrand in Johannesburg durch eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, dessen ERP-Teil ich damals betreute, aufgebaut wurde. Es zeigt, dass im Bereich Industrie die Automatisierungstechnik und Vernetzung schon seit vielen Jahren eine wesentliche Rolle spielen. Und das damals futuristische „Labor-Set-up“ ist heute (30 Jahre später) in vielen Betrieben Realität.
Das Beispiel mit der E-Medikation stammt aus Österreich aus dem Jahr 2015. Es dokumentiert, wie eine relativ einfache aber wirkungsvolle Maßnahme scheitern kann bzw. in die Länge gezogen werden kann, nur weil der Wille fehlt.
Wie vorhin erwähnt, sind die Themen Automatisierung und Vernetzung in der Industrie schon seit vielen Jahren präsent. Es gibt zwar viele Studien zum neuen Buzzword „Industrie 4.0“, also der Anwendung der Digitalisierung oder digitaler Technologien im Industriebereich, aber derzeit noch keine allgemein akzeptierte Definition, was Industrie 4.0 alles umfasst.
Es besteht Einigkeit, dass man unter Industrie 1.0 die erste industrielle Revolution, die Einführung mechanischer Produktionsanlagen, die durch Wasser- oder Dampfkraft betrieben wurden und die ca. 1780 begann, versteht.
Industrie 2.0, die zweite industrielle Revolution, gekennzeichnet durch die Einführung der arbeitsteiligen Massenproduktion und den Einsatz von elektrischer Energie, wird mit Beginn des 20. Jahrhunderts datiert.
Industrie 3.0, die dritte industrielle Revolution, ist gekennzeichnet durch den Einsatz von Elektronik zur Automatisierung der Produktion. Der Beginn wird überwiegend auf den Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts festgelegt.
Industrie 4.0 definieren manche Quellen als den Einsatz von „cyberphysischen Systemen“, andere quälen sich gar nicht mit einer Definition sondern listen nur Technologien auf, die über eine Sprechblase, in der 4.0 steht, verbunden sind.
Quelle: Christoph Roser at AllAboutLean.com
Für den Praktiker bzw. die praktische Anwendung ist es aber auch völlig irrelevant, ob man nun selbstfahrende Werkstücktransportmittel – im englischen Automated Guided Vehicles (AGVs) genannt und seit den neunziger Jahren bereits punktuell in der Industrie eingesetzt – der Industrie 3.0 oder 4.0 zuordnet. Der Hauptunterschied wird meiner Einschätzung nach sein, dass bis dato vor allem die Automatisierung in der Produktion und innerhalb der eigenen betrieblichen Grenzen stattfand und der Büro- und administrative Bereich davon relativ wenig betroffen waren. Durch Industrie 4.0 werden hingegen – durch die aktuell marktreif werdenden digitalen Technologien – auch kreative und administrative Bereiche massiv beeinflusst, ganze Prozessketten abgedeckt und die eigenen Unternehmensgrenzen überschritten werden.
Ziel und Hoffnung der Industrie in den Hochlohnländern sind, mit digitalen Technologien die eigene Wettbewerbsfähigkeit weiterhin zu sichern. Es geht dabei also sowohl um kürzere Innovationszyklen sprich mehr neue Produkte, mehr Individualisierung, raschere reibungsfreie Verfügbarkeit als auch um geringere Kosten.
Als häufigste Anwendungen der im letzten Newsletter genannten Technologietreiber werden genannt:
Aus dem Bereich „technische Infrastruktur mit Breitband, Big/Open Data und Cloudtechnologie sowie deren Sicherheit“ sind es rein technisch-infrastrukturelle Themen, die im Hintergrund laufen, und – solange sie funktionieren – für die Allgemeinheit kaum wahrnehmbar sind. Das Thema „Cyber Security“ erhält, wie im letzten Newsletter bereits erläutert, eine dramatische Aufwertung. Je offener und vernetzter Kommunikationsstrukturen, desto interessanter und verwundbarer wird das gesamte System für Internetgauner. Die öffentlich bekannt gewordenen Fälle von Hotels, deren Buchungssysteme „übernommen“ wurden, von Anwaltskanzleien, deren Server verschlüsselt wurden, vom Stahlerzeuger, bei dem Hacker die Hochofensteuerung „gekapert“ hatten, stellen nur die Spitze des Eisbergs dar und sind Vorboten dessen, was noch auf uns zukommen kann/wird. Die Übernahme eines städtischen Verkehrsleitsystems, eines Kraftwerks oder anderer kritischer infrastruktureller Komponenten durch Internetverbrechen hat extrem hohes Schadens- und Erpressungspotenzial.
Internet der Dinge bedeutet, wie ebenfalls letztes Mal erwähnt, dass die verschiedensten „Dinge“ fortlaufend Informationen an einen zentralen Computer senden, sodass dieser zu jeder Zeit den aktuellen Status dieses „Dings“ in Evidenz hat und situationsadäquat darauf reagieren kann. Dies kann zum Beispiel ein Werkstück sein, das bei einer Bearbeitungsmaschine ankommt. Die Bearbeitungsmaschine wird automatisch für dieses Werkstück gerüstet, das Teil bearbeitet und wieder im Werkzeugträger abgelegt, der dieses Teil automatisch und selbstständig zum nächsten Bearbeitungsschritt weiterleitet. Dabei werden künftig auch die Unternehmensgrenzen überschritten werden, sprich diese Vernetzung wird auch die Lieferantenkette umfassen und kann sich auch bis zum (End) Kunden erstrecken. Störungen und Abweichungen werden in Echtzeit verarbeitet und das Gesamtgefüge wird entsprechend neu optimiert. Dies führt im Idealfall zu einer wirklichen kundenspezifischen Just-in-time-Produktion in genau den erforderlichen Stückzahlen.
Diese Kommunikationsfähigkeiten erlauben auch neue Geschäftsmodelle: So gibt es heute schon Besispiele, nach denen der Anlagenhersteller nach erbrachter Leistung seiner Anlage abgerechnet wird und der Kunde nicht für die Anlage, sondern für die erbrachte Leistung bezahlt. Ein Beispiel dafür ist der Kompressorhersteller, der nach Kubikmeter geförderter Luft, der Windgeneratorhersteller, der nach erzeugten Kilowattstunden, der Hersteller von Bergbaumaschinen, der nach Tonnen abgebauter Kohle, der Druckerproduzent nach ausgedruckten Seiten, etc. etc. seine Rechnung stellt.
Aus dem Bereich „Analyse Selbst-Lernfähigkeit Digitalisierung und Automation wissensbasierter Arbeiten“ wird am häufigsten der Bereich der Qualitätskontrolle genannt und nur sehr selten die wahrscheinlich viel lohnenderen kunden/marktorientierte Anwendungen. Sehr häufig wird im Kontext mit „Internet der Dinge“ der Bereich Instandhaltung und Wartung angeführt. Zum Beispiel übermitteln Sensoren in den Maschinen Betriebszustände, so dass ungeplante Stillstände und Ausfallzeiten vermieden werden können. Die Beschaffung benötigter Ersatzteile kann automatisch, präventiv und ohne menschliches Zutun ausgelöst werden.
Anwendungsbeispiele aus dem Bereich Mensch-Technologie-Interaktion sowie virtual/augmented reality sind beispielsweise:
- Produktionsliniensimulation:
Produktionsliniensimulation ist an sich nichts Neues. Bereits 1985 konnten wir mit dem Programm SIMAN an der Universitätsforschungsanstalt die Fertigung eines Flugzeugflügels am Computer modellieren und simulieren bevor die Anlagen physisch bestellt und aufgebaut wurden. Der Produktionsdurchsatz, der später tatsächlich erreicht wurde, lag im Rahmen von rd. +/-10 % des Simulationsergebnisses. Neu ist jedoch, dass aufgrund der zunehmenden Benutzerfreundlichkeit die Simulation künftig breit angewendet und auf viele weitere Gebiete ausgerollt werden wird. Simulation von z.B. Verformungszuständen im Metallbau und von Formfüllverhalten in der Gießereiindustrie sind heute bereits Industriestandard.
- Intelligente Lieferantennetzwerke:
Intelligente Lieferantennetzwerke entstehen durch bessere Vernetzung der Netzwerkpartner. Aufgrund des laufenden Feedbacks hinsichtlich der Fertigungszustände der in der Produktion befindlichen Aufträge können die erforderlichen Komponenten viel zeitnaher bestellt, und im Fall von Produktionsänderungen die Lieferpläne automatisch an die neue Produktionssequenz angepasst werden.
- Wartung und Serviceaufgaben:
Digital unterstützte Wartungs- und Serviceaufgaben können dadurch optimiert werden, dass zum Beispiel in Datenbrillen die erforderliche Information für Wartungs- oder Montageaufgaben zum richtigen Zeitpunkt eingespielt werden, und somit der Monteur die erforderlichen Arbeitsschritte auch bei geringerer Ausbildung zuverlässig ausführen kann.
Aus dem Bereich Umsetzung von Daten in physische Aktionen sind insbesondere die verstärkte Roboterisierung und die stärker verschränkte Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschinen hervorzuheben. Dazu gibt es bereits eine Menge (hilfreicher, anwendbarer) Publikationen, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen wird.
Unter anderem gehören in dieses Feld selbstfahrende Vehikel, die die inner- und außerbetriebliche Logistikaufgaben erfüllen. Automatische Transportmittel, die einzelne Unternehmensbereiche verbinden, gibt es schon seit vielen Jahren. Selbstfahrende Autos sind seit einigen Monaten ein heißes Diskussionsthema. Aber nicht nur die Firma Tesla oder Google experimentieren damit, sondern auch Mercedes-Benz testet bereits mit einem 15-Tonnen-Lkw. Und beim LKW sieht die Kosten/Nutzenrechnung gleich ganz anders aus – kein Fahrer, keine Ruhe/Pausenzeiten, etc…
Ein völlig anderes Beispiel wäre die dezentrale Anwendung von 3-D-Druckern zur Erzeugung von kleinen Stückzahlen, Prototypenteilen oder Ersatzteilen (zum Beispiel in den Ersatzteilzentren). Der umfassend Einsatz dieser Technologie würde große Lager-/Logistkzentren redundant machen.
Interessant ist, dass von den immer wieder genannten Beispielen kaum welche in Richtung Vertrieb in der Prozesskette „nach vorne“ greifen, und die administrativen Bereiche fast vollständig ausgeklammert werden. Damit konzentriert sich in den gängigen Publikationen der Mitteleinsatz wieder auf Bereiche, die ohnedies seit vielen Jahren schon x-mal beackert und optimiert wurden. Sicherlich sind auch in diesen Bereichen durchaus noch Produktivitätsreserven zu heben, viel größere – leichter zu hebende – Reserven schlummern aber jenseits der Fabrikhalle: beginnend mit der Konstruktion und Konstruktionseffizienz bis hin zur Buchhaltung. Aber hier ist für die Anbieter von Automatisierungstechnik deutlich weniger Geld zu holen. Für Unternehmen mit limitierten Budgets sind diese Bereiche allerdings jene mit dem höheren ROI.
Wenn wir als „kleine Nebenbedingung“ unsere Industriestruktur in Österreich und Deutschland betrachten und auf welchem Industrie n.0-Stand sich diese Firmen befinden, dann sehen wir, dass es sich dabei primär um kleine und mittelständische Unternehmungen handelt, die von ihrem Entwicklungsstand teilweise oder vielleicht sogar zu einem erheblichen Teil eher der Industrie 2.0 zuzuordnen sind. Für diese Unternehmen ist die Vision Industrie 4.0 in etwa so weit weg – und das nicht nur allein aus finanziellen Gründen – wie die Erde vom Mars.
Bevor Visionen zu Industrie 4.0 zu sehr das Denken verwirren, ist eine Analyse dahingehend erforderlich, wo das jeweilige Unternehmen tatsächlich steht und was seinen Kunden tatsächlich einen Mehrwert bringt, für den diese auch bereit sind zu zahlen. Konzepte, die nicht beim Kunden beginnen und erst dann die Prozesse optimieren, springen meines Erachtens immer zu kurz.
Eine erfolgreiche Automatisierung setzt immer das Durchlaufen der Stufen Eliminieren und Vereinfachen voraus. Komplexität, die ein Unternehmen nicht besitzt, braucht weder verwaltet noch automatisiert (oder digitalisiert) zu werden. Wer verabsäumt, die Komplexität der Systeme bzw. des Produktspektrums und der Prozesse deutlich zu vereinfachen, in dem gewisse Dinge eben nicht mehr gemacht werden, andere standardisiert und auf Plattformen gehoben, also vereinfacht werden, der scheitert im Allgemeinen an der Automatisierung oder aber die Kosten explodieren und die Ergebnisse bleiben trotzdem hinter den Erwartungen.
Erst wenn die ersten zwei Schritte erfolgreich erledigt sind, ist ein Automatisieren und anschließendes Integrieren der automatisierten Teilsysteme/Teilprozessketten hin in Richtung durchgängiger digitaler Kette möglich und erfolgreich. Industrie 4.0 konzentriert sich primär auf das Integrieren der verschiedensten Bereiche – nennen wir sie Datenquellen – deren Analyse und die Ableitung entsprechender Aktionen. Als Konzept brilliant, aber für viele so weit weg wie die Erde vom Mond.
Industrie 4.0 wird meiner Einschätzung nach nicht so umfassend (integriert) stattfinden wie die Professoren und Technologieverkäufer dies heute gerne postulieren. Nichtsdestotrotz kann, ja muss jedes Unternehmen für sich aus diesem Konzept und dem digitalen Technologieköcher den bestmöglichen Nutzen ziehen. Das Thema Cyber Security ist dabei eine der größten Achillessehnen.
Wenn wir an das Beispiel aus 1985 zurückdenken, ist doch in vielen Firmen das, was damals im Labor geschah, heute bereits alltäglicher Standard. Ähnlich wird es mit Industrie 4.0 sein. Was uns heute utopisch erscheint, wird in 30 Jahren alltäglich sein.
Dass die digitalen Technologien Service und Dienstleistungsbereiche, die bis dato von Automatisierung vergleichsweise geringfügig betroffen waren, viel einschneidender verändern werden und erhebliche Jobverluste nach sich ziehen werden, darüber wird der nächste Newsletter berichten.